Nach dem Sieg Gideons über die Midianiter würde man eigentlich den mittlerweile vertrauten Abschlusssatz erwarten: „Und das Land hatte … Jahre Ruhe.“ Leider ist das hier nicht der Fall. Und damit nimmt das Unheil seinen Lauf …
Zuerst sehen wir, wie Gideon den Männern aus Ephraim noch wohlwollend und diplomatisch begegnet. Mit seiner überlegten Antwort auf ihren Ärger stillt er den Zorn und vermeidet Unruhe. Seine Reaktion auf die Ablehnung der beiden Städte zeigt jedoch sein wahres Gesicht. Ihre Weigerung, Gideon und seine Männer zu unterstützen, ist aus ihrer Sicht einfach eine Vorsichtsmaßnahme, falls die Midianiterkönige doch nicht gefasst werden können. Dann hätten sie als Komplizen des Aufrührers Gideon schwere Konsequenzen zu befürchten. Gideon jedoch sieht in ihrer Abweisung eine persönliche Beleidigung und explodiert. Der Kampf ist noch gar nicht richtig vorbei und schon hat er die große Lektion, die Gott ihn und ganz Israel lehren wollte, vergessen: Statt alle Ehre für den Sieg Gott zu geben, verfällt Gideon in ein Anspruchsdenken, er bildet sich etwas auf seinen Erfolg ein. Deshalb ist es für ihn absolut unerhört, dass die Einwohner der beiden Städte ihn abblitzen lassen. Jetzt erkennen wir auch den wahren Grund, warum Gideon so ruhig und diplomatisch den Ephraimitern geantwortet hat: Weil er gegen sie machtlos war. Ephraim war einer der größten und stärksten Stämme Israels, Gideon dagegen stammte aus der kleinsten Sippe des Stammes Manasse (V.2; 6,15). Gegen die zwei Städte jedoch ist er mit seinen 300 Kriegern im Vorteil, deshalb kann er da seinem Zorn freien Lauf lassen.
Von da an geht es nur noch bergab. Nach dem großen Sieg gegen Midian will das Volk Gideon zum König machen. Sie haben vergessen, dass Gott eigentlich ihr König sein soll. Sie wollen Gott durch den von ihm eingesetzten Richter ersetzen. Gideon lehnt ihre Bitte zwar ab mit dem Hinweis, dass doch nur Gott ihr König sein soll (V.23), jedoch handelt danach in direktem Widerspruch zu seinen Worten. Auch wenn er sagt, dass er nicht König sein will, handelt er sehr wohl wie einer. Zuerst bittet er die Israeliten um eine Abgabe von der Beute (man könnte es bestimmt auch als „Steuer“ bezeichnen) und wird dadurch zu einem reichen Mann. Dann macht er daraus ein „Efod“, einen Priesterschurz, das er in seinem Heimatort aufstellt. Eigentlich wurde das Efod vom Hohepriester getragen, wenn er seinen Dienst im Heiligtum verübte. An diesem Kleidungsstück war eine Brusttasche, in der die Lose aufbewahrt waren, mit denen der Wille Gottes bei Entscheidungen gesucht wurde (vgl. 2Mo 28,6–30). Indem er eine Nachbildung dessen anfertigt und in seiner Stadt aufstellt, macht er diesen effektiv zur Konkurrenz zum wahren Heiligtum in Silo. Und er hat „Erfolg“: „Ganz Israel kam dorthin, um das Bild anzubeten, und wurde so den HERRN untreu.“ (V.27) Weiterhin schafft er sich – typisch königlich – einen Harem an. Er nennt sogar den Sohn einer Nebenfrau „Sohn eines Königs“ (V.31)! Er, der so gut begonnen hatte und im Vertrauen auf Gott mutige Schritte gegangen war, um Israel zu befreien, sorgt nun selbst dafür, dass sich das Volk wieder von Gott abwendet und in die nächste Krise stürzt.
Der Sieg über die Midianiter entpuppt sich für Gideon zum Stolperstein. Der Moment seines Triumphs ist gleichzeitig der Beginn seines rasanten Abstieges. Es kann für uns kaum etwas Gefährlicheres geben, als wenn unsere sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gehen und wir erfolgreich sind. Würden wir unsere Hoffnung auf etwas anderes als Gott setzen und dabei eine Niederlage erleben, würden wir wahrscheinlich ins Nachdenken kommen und die Sinnlosigkeit dieses Götzen erkennen. Haben wir jedoch Erfolg, bestärkt uns das nur in unserem falschen Weg und wir folgen noch mehr unserem Götzen, mit schlimmen Konsequenzen für uns und vielleicht auch für unser Umfeld. Wenn es dir am wichtigsten ist, beruflich erfolgreich zu sein, dann wird Gelingen auf der Arbeit dich womöglich in nur noch mehr Arbeit stürzen, um das nächste Erfolgserlebnis zu haben, auch wenn das auf Kosten deiner Freizeit, Gesundheit oder Familie geht. Wenn du dir unbedingt Kinder wünschst und es nach langer Wartezeit endlich geklappt hat, besteht die reale Gefahr, dass du dein Kind mit so vielen Erwartungen überfrachtest, dass du selbst maßlos enttäuscht bist, wenn der „Erfolg“ ausbleibt und eventuell sogar darunter die Eltern-Kind-Beziehung leidet. Verlieren wir Gott aus dem Blick und dass wir alles im Leben ihm verdanken, fangen wir an, andere Dinge anzubeten. Wenn wir dann erfolgreich sind, werden wir stolz; erleben wir Niederlagen, zieht uns das unglaublich herunter. Und am Ende wird es uns zumindest geistlich ruinieren. Der Schriftsteller David Foster Wallace hat es treffend formuliert:
Wir alle beten etwas an. Wir können nur das Objekt frei auswählen. Und ein guter Grund, sich dafür eine Art Gott oder spirituelles Anbetungsobjekt auszusuchen …, ist, dass so ziemlich alles andere, was man anbeten kann, uns bei lebendigem Leibe verschlingen wird.1David Foster Wallace, zitiert in Timothy Keller, Glauben wozu? (Gießen: Brunnen, 2019), S. 145.
Gebet: Vater, die persönliche Standardeinstellung meines Herzens tendiert immer wieder zu geschaffenen Dingen anstatt zu dir. Verändere mich immer mehr durch das Evangelium und das Betrachten von Jesus, der kam, um zu dienen, anstatt auf seine Rechte zu bestehen. Amen.
Fußnoten
- 1David Foster Wallace, zitiert in Timothy Keller, Glauben wozu? (Gießen: Brunnen, 2019), S. 145.