Christsein ist kein Solo-Sport

Ein individueller Glaube

Ich bemerke seit einigen Jahren einen Trend unter Christen hin zur immer größer werdenden „Individualisierung“ des persönlichen Glaubens. Ich meine damit die Entwicklung, dass wir (ich schließe mich davon nicht aus) unser geistliches Leben immer mehr individuell und losgelöst von der unmittelbaren Gemeinschaft mit anderen Christen gestalten. Besonders krass begegnet mir das in der Aussage: „Ich komm doch als Christ auch ganz gut allein klar. Warum muss ich mich denn zwingend einer Ortsgemeinde anschließen?“

Die Corona-Jahre haben dabei sicherlich einen großen Anteil daran. Sie haben einerseits digitale Versammlungen legitimiert und „normal“ werden lassen. Vor sechs Jahren war es noch die absolute Ausnahme und immer auch ein bisschen seltsam, wenn man sich online treffen musste. Auf meiner alten Arbeitsstelle waren anfangs noch reale, „analoge“ Termine mit Kunden und Lieferanten die einzig richtige Form für wichtige Treffen. Niemand hat hinterfragt, ob man wirklich für einen 90-Minuten-Termin von Sachsen aus an den Bodensee fahren muss. Die Corona-Zeit hat diese Meinung nachhaltig auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig wirkte diese Zeit für viele Kirchen und Gemeinden als Triebkraft für Modernisierung. Innerhalb kürzester Zeit wurden YouTube-Livestreams und Predigt-Podcasts aus dem Boden gestampft.

Ein weiterer Faktor in dieser Entwicklung ist die flächendeckende Verbreitung von Smartphones und Social Media. Alles, was man jetzt für das christliche Leben benötigt, ist nun direkt in der Hosentasche vorhanden. Die Bibel-App lässt mich nicht nur das Wort Gottes immer dabei haben. Sie bietet auch gleich noch eine Unmenge an Bibelleseplänen, wo für jeden Geschmack und jedes Bedürfnis etwas dabei ist. Wenn ich mir einen Gottesdienst ansehen will, finde ich auf YouTube eine große Auswahl an Livestreams. Die Predigten meiner Lieblingspastoren habe ich als Podcast abonniert und so eine nie versiegende Quelle an geistlichem Input. Und über Spotify sind Anbetung und Lobpreis nur eine Playlist weit entfernt.

Fallbeispiel „Lebensregel“

Auch bei Neuveröffentlichungen auf dem christlichen Büchermarkt sehe ich diesen Trend. Ein aktuelles Phänomen ist die Wiederbelebung der alten Praxis einer „Lebensregel“. Diese Idee stammt aus den christlichen Klöstern und geht zurück bis auf einige Kirchenväter aus dem 4. Jahrhundert. Es geht dabei darum, sich für das Leben bestimmte Strukturen zu schaffen, um fokussiert und auf Gott ausgerichtet im Alltag zu leben. Persönlich finde ich diesen Gedanken unglaublich hilfreich und in den letzten Jahren habe ich vom Erstellen einer eigenen „Lebensregel“ stark profitiert. Was mir jedoch erst kürzlich aufgefallen ist: Ursprünglich war eine Lebensregel für das Leben in einer Gemeinschaft gedacht. Die Mönche unterwarfen sich gemeinsam der Lebensregel ihres Ordens, sie bestimmte ihr Zusammenleben. Heute haben wir die Lebensregel individualisiert: Jeder muss/darf/kann sich seine eigene Regel erstellen.

Natürlich kann mir kein Autor von der Westküste Amerikas eine stimmige Lebensregel für meine spezielle Situation in Deutschland bieten. Aber dennoch fehlt mir bei der Vielzahl an Artikeln und Büchern zu diesem Thema die Einbindung der Gemeinde beim Erstellen einer solchen Regel. Nirgendwo habe ich den Satz gelesen: „Setzt euch als Gemeinde zusammen und überlegt gemeinsam …“ Die Gemeinde und die Gemeinschaft mit anderen Christen ist zwar oft Bestandteil einer Lebensregel, wird aber nicht als Ausgangspunkt gesehen. Wenn es um die praktische Umsetzung und die nächsten Schritte geht, zählt anscheinend nur das Individuum.

Hin zu einem gemeinschaftlichen Glauben!

Ich wünsche mir, dass wir unser Christsein weniger als Einzelkämpfer angehen, sondern wieder neu den Wert des gemeinsamen Glaubens entdecken! An den ersten Christen im Neuen Testament sehen wir, dass christliches Leben nur in der Gemeinschaft funktioniert. Konkreter sogar noch, dass christliches Leben nur im Kontext einer lokalen Gemeinde funktioniert. Nur, weil wir heute 2000 Jahre später die Möglichkeiten haben, ganz gut allein mit unserem Glauben klarzukommen, heißt das nicht, dass wir das auch tun sollten.

Lasst uns gemeinsam im Gottesdienst Gott anbeten und ihm Lieder singen! Auch wenn der Stil und das Lied mir vielleicht nicht immer zusagen. Was für eine Kraft liegt in dem gemeinsamen Lob Gottes, wenn andere uns zusingen, was wir selbst grad nicht ausdrücken können; wenn wir sehen, wie andere Gemeindemitglieder, trotz großem Leid und Ungewissheit, Gott von ganzem Herzen loben.

Lasst uns gemeinsam in der Bibel lesen und uns darüber austauschen! Mir ist bewusst, dass die Ziele und die verfügbare Zeit für das persönliche Bibellesen sehr individuell sind. Aber vielleicht können wir ab und zu für einen begrenzten Zeitraum den gleichen Bibelleseplan absolvieren, um eine bessere Basis für das gemeinsame Reden über die Bibel zu haben. In unserer Gemeinde bieten wir genau das zweimal im Jahr an, wo wir parallel zu einer Predigtreihe gemeinsam durch ein Buch der Bibel lesen können.

Lasst uns gemeinsam die Verantwortung für geistliches Wachstum innerhalb der Ortsgemeinde wahrnehmen! Natürlich ist es leichter und manchmal auch gewinnbringender, wenn man sich geistliche Nahrung und Antworten auf seine Fragen von seinen „Lieblingspredigern“ im Internet holt. Mit den eigenen Predigern und Gemeindeleitern hat man manchmal seine Mühe. Gleichzeitig hat Gott jedoch sie als Hirten für deine Gemeinde eingesetzt. Wenn du mit deinen Fragen zu ihnen kommst, hilfst du ihnen, ihrer gottgegebenen Verantwortung nachzukommen. Sie kennen dich und deine Situation und prinzipiell solltest du auch davon ausgehen können, dass sie das Beste für dich wollen. Google, ChatGPT oder auch Tobias Teichen können dir vielleicht intellektuell gute Antworten liefern, aber sie werden niemals so persönlich auf dich eingehen können wie deine Ältesten und deine Geschwister in der Gemeinde.

Ich musste das auch persönlich erfahren. Einige Jahre lang habe ich mir meine hauptsächliche geistliche Nahrung aus Predigten von Tim Keller, seinen Büchern und anderen guten Online-Plattformen gezogen. Das war sehr wertvoll für mich und hat meinen Glauben sehr wachsen lassen. Gemeinschaft, guten Rat und liebevolles Hinterfragen konnten diese mir aber nicht bieten; das konnte ich nur in meiner kleinen Gemeinde finden. Auch wenn es da nicht immer einfach war und einige Menschen dort ganz anders getickt haben als ich und wir auch einige theologische Differenzen hatten, war das doch meine geistliche Familie. Und als ich mit Krebsdiagnose im Krankenhaus lag, waren es die Christen aus genau dieser Gemeinde, die für mich gebetet und mich besucht haben. Die am Sonntagmorgen durch die ganze Stadt gefahren sind, um mich aus dem Krankenhaus zum Gottesdienst abzuholen. Das konnte Tim Keller niemals für mich tun.

In den vergangenen Tagen habe ich das in unserer Gemeinde mehrmals miterlebt. Ich fand das richtig schön, als vor Kurzem eine junge Frau aus unserer Gemeinde meine Frau angeschrieben hat. Sie hört sich gern die Podcasts von einer bestimmten christlichen Frau an und wollte nun von meiner Frau wissen, ob der Podcast denn inhaltlich bedenkenlos ist. Mich hat es sehr gefreut, dass diese Jugendliche die Weisheit von Leuten, die sie gut kennen, anzapft und ihrem Urteil vertraut. Außerdem hat vor einigen Tagen ein Paar, das noch nicht allzu lang in unsere Gemeinde geht, geheiratet. Der Mann war voller Dankbarkeit, dass in der Vorbereitung und an diesem Tag die Gemeinde für ihn „wie eine Familie“ war, wo sie so viel Hilfe und Unterstützung bekommen hatten. Und einen Tag drauf habe ich mit jemandem geredet, der gerade schwere Krankheit in der Familie hat. Und er drückte genau das Gleiche aus, dass sie die Unterstützung der Geschwister, vor allem durch Gebet, sehr schätzen und deutlich die positiven Auswirkungen davon spüren. Das ist die Kraft der Gemeinschaft! Lasst uns also in unserer Beziehung zu Jesus nicht allein bleiben, sondern ihm gemeinsam und miteinander nachfolgen.

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