Schritte aus der Eile (1): Stille und Einsamkeit

Seitdem ich ein Jugendlicher bin (vielleicht auch schon eher, aber daran kann ich mich bewusst erinnern), bin ich von einem konstanten äußerlichen und internen Geräuschpegel umgeben. Irgendwelche Musik lief bei mir immer im Hintergrund. Hausaufgaben gingen selbstverständlich mit Beschallung, lernen ab und zu auch. Einfach nur Stille wurde teilweise richtig beklemmend. Und wenn dann mal nichts lief, dann spielte das nächste Lied in meinem Kopf.
Ab meiner Studienzeit hat sich der Fokus dann etwas verschoben. Ich hab weniger Musik gehört. Das heißt aber nicht, dass ich deshalb mehr Ruhe gehabt hätte. Ich habe Lieder durch youtube-Videos und Podcasts ersetzt. Und wenn man nichts anhören konnte, dann habe ich gelesen. Viele Bücher, aber auch alle möglichen Internetartikel. Über viele Jahre hinweg war für mich Produktivität gleichbedeutend mit entweder etwas Interessantes konsumieren oder tun. Der Gedanke einfach nur ruhig dazusitzen und nichts zu tun, war mir echt fremd. Damit wird mir auch immer mehr klar, warum es mir über Jahre hinweg so schwer fiel, länger als 10 oder 15 Minuten am Stück zu beten. Es fühlte sich einfach so unglaublich unproduktiv an.
Vor einigen Wochen berichtete ich von dem Buch The Ruthless Elimination of Hurry und seinem augenöffnenden Effekt auf mich. Und damit der Aha-Effekt nicht gleich wieder verfliegt, will ich mich noch etwas ausführlicher mit den vorgeschlagenen Praktiken zum „entstressten“ Leben befassen. Deshalb schreibe ich heute über die erste „Übung“: Stille und Einsamkeit.

Warum Lärm ein Problem für Christen darstellt

Warum sollte man sich überhaupt mit Stille und der Einsamkeit beschäftigen? Ich habe mir bisher kaum darüber Gedanken gemacht. „Stille und Einsamkeit“ klang so nach Einsiedler, Mönch im Kloster und kontemplative Mystiker. Und aufgrund meiner Prägung neige ich dazu (wahrscheinlich oftmals zu schnell), die Augenbrauen hochzuziehen und das Ganze abzutun. Diese Menschen haben jedoch einen Aspekt des christlichen Glaubens begriffen, den ich nie so richtig ernst genommen habe: Der Glaube und die Beziehung zu Gott wachsen nicht in einer Umgebung der Ablenkung und des Lärms.
Andrew Sullivan, der kein Christ ist, schreibt von einem interessanten Zusammenhang zwischen der zunehmenden Säkularisierung und zunehmenden Geschäftigkeit unserer Gesellschaft:

Der Grund, warum wir in einer zunehmend glaubenslosen Kultur leben, ist nicht, dass die Wissenschaft irgendwie das nicht Beweisbare widerlegt hat, sondern weil das Grundrauschen des Säkularismus genau die Stille entfernt hat, die der Glaube braucht, um zu überdauern und wiederbelebt zu werden.

Als ich über diesen Satz nachgedacht habe, kam mir eine Geschichte von Elia in den Sinn. Als er in 2. Könige 19 am Berg Sinai ist und Gott ihm begegnet, da erscheint Gott nicht im Feuer oder im Sturm oder im Erdbeben. Sondern er kommt zu Elia im leisen Wind, im sanften Säuseln. Und an vielen anderen Stellen in der Bibel sehen wir immer wieder, dass Gott den Menschen in der Stille begegnet. Besinnung auf Gott kann nicht im Lärm, in der Ablenkung, in der Geschäftigkeit geschehen. Und je lauter die Geräusche um uns herum sind und je länger wir ihnen ausgesetzt sind, desto schwerer wird es uns fallen, auf Gott zu hören und uns seiner Gegenwart auszusetzen. Wir brauchen immer länger, bis wir überhaupt in einen aufnahmefähigen Zustand kommen.
Und Lärm und Ablenkung bezieht sich nicht nur auf die konstante Geräuschkulisse um uns herum. In den letzten Wochen ist mir immer mehr bewusst geworden, dass der konstante Informationszufluss durch Internet und Social Media genauso zum „Grundrauschen“ und zur Ablenkung in meinem Leben hinzugehört. Weniges trägt so sehr zu meiner Ablenkung bei als immer wieder neue Mitteilungen auf meinem Smartphone, nie endende Neuigkeiten auf facebook oder immer neue Blogbeiträge, die ich lesen könnte.
Wie also können wir in dieser lauten und reizüberflutenden Welt leben, ohne dass unser Glauben auf lange Sicht Schaden nimmt?

Was wir von Jesus lernen können

Jesus fasziniert mich in seinem Umgang mit Stress und Hektik immer wieder. Ich meine, er war wohl der Letzte, der sich über zu viel freie Zeit hätte beklagen können. Würden die Leute so viel von mir verlangen wie von Jesus, ich wäre schon längst im absoluten Burnout geendet. Jesus war nahezu konstant von Menschen umgeben. Und alle wollten etwas von ihm. Sie wollten geheilt werden, auf seine Lehre hören oder auch ihn herausfordern, um ihm aus irgendeiner Aussage einen Strick drehen zu können. Der Stress muss enorm gewesen sein. An einer Stelle lesen wir sogar, dass er und seine Jünger nicht mal Zeit zum Essen hatten, so sehr wurden sie von den Menschenmassen bedrängt (Mk 6,31).
Wie hat also Jesus den Verstand nicht verloren? Ich glaube, ein Schlüssel liegt darin, dass er sich immer wieder Zeiten der Stille und Einsamkeit genommen hat. In diesen Stunden hatte er Gemeinschaft mit seinem Vater. Da konnte er zur Ruhe kommen, sich neu fokussieren, Kraft schöpfen für den nächsten Tag. Jesus beginnt seinen Dienst mit 40 Tagen in der Wüste. Bevor er sich in die Arbeit stürzt, hat er eine ausgedehnte Zeit der Stille und Einsamkeit in der Gegenwart Gottes. Comer schreibt in The Ruthless Elimination of Hurry sogar:

„Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt“, denn es war dort und nur dort, dass Jesus auf der Höhe seiner geistlichen Kräfte war. Es war erst nach einem anderthalben Monat des Betens und Fastens in der Stille, dass er ausgerüstet war, es mit dem Teufel selbst aufzunehmen und unversehrt daraus hervorzugehen. (S. 125)

Zwei weitere Beispiele: Nach einem vollen Tag voller Krankenheilungen und Exorzismen steht er am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang auf, um allein Zeit zum Beten zu haben (Mk 1,35). Und nach einem extrem anstrengenden Tag ohne Zeit zu essen, stundenlanger Lehrtätigkeit und wundersamer Versorgung von 5000 Männern freut sich Jesus anscheinend nicht einfach nur auf sein Bett, sondern auf die Stille und Gemeinschaft mit seinem Vater (Mk 6,46).
Je mehr Jesus zu tun hatte, desto mehr suchte er die Ruhe. Für mich ein echt verrückter Gedanke, denn er läuft entgegengesetzt jeglicher Intuition. Für mich ist Zeit mit Gott meistens das erste, das gekürzt wird, wenn viel los ist. Aber wahrscheinlich liegt genau darin der Schlüssel zum Ausstieg aus der Eile. In Zeiten der Geschäftigkeit brauchen wir mehr Zeit in der Stille, nicht weniger. Anstatt auf die vielen Aufgaben zu blicken und sie kopfüber anzugehen, sollen wir innehalten und auf Gott blicken. Uns an ihm und seinen Maßstäben ausrichten, statt an unseren Prioritäten und denen anderer Leute.
In einer Welt voller Lärm, Ablenkung, Informationen und dringender Aufgaben ist das bewusste Zurückziehen in die Gegenwart Gottes in der Stille und Einsamkeit die kontrakulturelle Antwort für ein zielgerichtetes Leben.

Was ich mir daraus mitnehme

Für mich ergeben sich aus den Gedanken zu Stille und Einsamkeit drei Schritte, die ich begonnen habe umzusetzen:
Erstens habe ich begonnen Momente der Stille in meinen Tag einzubauen. Das fällt mir gerade sehr schwer, weil ich aktuell im Homeoffice arbeite und da die natürlichen Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit durch die Autofahrt fehlen. Früher nutzte ich die Autofahrten, um Podcasts zu hören. Nun werde ich das auf eine von zwei Fahrten beschränken und den Nachhauseweg nutzen, um vom Arbeitstag herunterzufahren und mich auf Zuhause einzustellen. Bin ich zuhause, soll meine Mittagspause die Zeit der Stille sein.
Zweitens habe ich meinen konstanten Informationsfluss stark reguliert. Früher hab ich in jeder freien Minute nach neuen Artikeln im Internet gesucht, Artikel gelesen, Emails gecheckt usw. Es war ja auch einfach, weil mein Smartphone immer mit dabei war. Ich habe nun alle diese Apps gelöscht und lasse mein iPhone öfter mal einfach zuhause liegen. Um nun Mails oder Artikel zu checken, muss ich mich am Laptop oder Tablet anmelden und schaue nun nur noch zwei- bis dreimal am Tag nach (ideal wäre für mich einmal).
Und drittens nehme ich mir einen Tag in der Woche besonders zur Ruhe. Auch wenn ich den Ruhetag schon immer „begangen“ habe, so war es doch eher ein Pseudo-Ruhetag. Aber dazu im nächsten Beitrag mehr.


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