Vor drei Monaten schrieb ich noch von meiner Hoffnung, dass Gott Timothy Keller noch einige Zeit leben lässt und Kraft schenkt. Gott aber hatte andere Pläne. Am 19.05. ist Keller seinem Krebsleiden erlegen und sieht jetzt seinen Herrn von Angesicht zu Angesicht, dem er bis zum Ende treu gedient hat. Aus aller Welt erscheinen nun Artikel, die sein Lebenswerk würdigen und das ungeahnte Ausmaß seines Dienstes sichtbar werden lassen. Auch ich gehöre zu den Menschen, die ohne Tim Keller nicht zu den geistlichen Menschen geworden wären, die sie jetzt sind. Obwohl ich sehr traurig darüber bin, dass er nicht mehr lebt und wir keine neuen Bücher, Artikel und Predigten von ihm mehr erwarten können, bin ich doch auch unglaublich dankbar für alles, was Gott mich durch Kellers Dienst gelehrt hat.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Effekt der ersten Predigten, die ich ca. 2012 von Tim Keller hörte. Ein Freund hatte mir sie empfohlen und die Bücher „Warum Gott“ und „Es ist nicht alles Gott, was glänzt“ wurden grad überall gepriesen. Anfangs war ich noch etwas skeptisch angesichts der überschwänglichen Lobesreden auf diesen „neuen“ Prediger und Autor. Diese Skepsis war jedoch schnell Geschichte. Ich war sofort begeistert von den unaufgeregten, intellektuellen und dennoch passionierten Predigten, die ich hörte. Keller sprach die tief sitzenden Probleme der Menschen an und bot eine existenziell befriedigende Antwort und dennoch fehlte nie eine feine Prise Humor. Aber am stärksten beeindruckte mich, dass er in wirklich jeder Predigt und von wirklich jedem Bibeltext ausgehend auf das Evangelium zu sprechen kam und es als die ultimative Lösung unserer Probleme darstellte. Und das alles, ohne aufgesetzt zu wirken! So etwas hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Heute ist „evangeliumszentriert“ das große Schlagwort in evangelikalen Kreisen, wenn es um Gemeinde und Gottesdienst geht. Damals war dieses Konzept in unseren Kreisen noch relativ neu. Ich genoss die Predigten, die zum einen den hohen Anspruch Gottes an uns Menschen klar herausstellten, aber nicht gesetzlich waren, und zum anderen die tiefe Annahme und Liebe Gottes durch Jesus zeigten, die der einzig mögliche Motor unserer Veränderung sind.
Durch Kellers Predigten und Bücher habe ich auch gelernt, dass das Evangelium nichts ist, das ich für meine Bekehrung brauche und danach zu den Akten legen kann. Stattdessen betrifft es jeden einzelnen Lebensbereich. Ich brauche das Evangelium jeden Tag neu, um gegen die tief sitzende Unsicherheit anzukämpfen, ich sei der Liebe Gottes nicht würdig. Und ich brauche es täglich, um mich von dem tief sitzenden Bestreben zu befreien, ich müsste mir Gottes Wohlgefallen verdienen.
Timothy Keller sagte einmal, dass er es sich wünschen würde, wenn er für die Nachwelt als Beter und als Evangelist im Gedächtnis bleiben würde. Das Herz eines Evangelisten zeigte sich in New York City, wo er und seine Frau Kathy 1989 die Redeemer Presbyterian Church gründeten. Seine Art, mit postmodernen Skeptikern, Zweiflern und Fragenden umzugehen, wurde vorbildhaft für eine ganze Generation von Christen. Ich selbst kann mich noch gut an mein erstes Lesen von Warum Gott? erinnern, dem ersten Buch von Keller. Ich war gepackt von der intellektuellen Tiefe meines Glaubens, die ich bisher noch gar nicht so gekannt hatte. Und ich merkte, dass Keller die Fragen und Einwände wirklich ernst nahm und sie nicht mit oberflächlichen Antworten abbügelte. Und bei jeder Antwort kam er früher oder später wieder aufs Evangelium zurück und präsentierte Jesus als die wahre Lösung. Ebenso zeigte er in seinem Buch Glauben wozu?, dass die Sehnsüchte unserer Gesellschaft zwar wirklich ernstzunehmen sind, dass aber die kulturellen Antworten zu kurz greifen und letztlich wieder nur der wahre christliche Glaube mit dem Evangelium die befriedigendste Antwort auf unsere Sehnsüchte bietet. Dieser Ansatz, die kulturellen Grundannahmen sowohl zu bestätigen, wo sie mit dem christlichen Glauben übereinstimmen, als auch kritisch zu hinterfragen, wo sie ihm widersprechen, und ultimativ das Evangelium als bessere Antwort darzustellen, hat mich unglaublich geprägt.
Trotz all dem großen Erfolg, der weltweiten Bekanntheit und seinen vielen Büchern und Konferenzeinladungen ist aber wahrscheinlich das bemerkenswerteste an Tim Keller, wie demütig und bodenständig er geblieben ist. Diese demütige Grundhaltung beeindruckt mich am meisten. Denn oft kommt mit großem Erfolg auch eine gewisse Abgehobenheit. Eine Grundaussage, die sich jedoch durch nahezu alle Nachrufe von Kellers Bekannten zieht, ist seine Demut und wie wenig er von sich selbst eingenommen war. Ihm ging es nie darum, selbst im Rampenlicht zu stehen. Stattdessen lenkte er viel lieber das Scheinwerferlicht auf Jesus und auf andere Menschen. Er war ehrlich an den Menschen interessiert und fragte nicht danach, wie er von ihnen profitieren könnte. Diese Wertschätzung, die er anderen entgegenbrachte, war für viele der Aspekt, der am meisten im Gedächtnis verankert blieb. Ich würde mir von Herzen wünschen, auch so einen Charakter zu entwickeln. So oft schaue ich nur auf mich und wie andere Menschen mich weiterbringen können. So oft suche ich Bestätigung bei anderen. Keller hatte den Inhalt seines Büchleins Vom Glück selbstlos zu leben verinnerlicht und ich bete, dass auch ich zu einem Menschen werde, der einfach weniger über sich selbst nachdenkt und seinen Wert ganz von Gott bestimmen lässt.
Und schließlich ist bemerkenswert, welchen langen Weg Tim Keller ging, um zu dem Mann zu werden, den wir jetzt kennen. Wir sehen oft nur seinen Erfolg; seine Bücher, Predigten, seine Einsichten in Kultur und Gesellschaft, seinen weltweiten Einfluss. Dieser Erfolg hat jedoch eine sehr lange und oft unbekannte Vorgeschichte. Viele sehen nicht, dass Keller zu Beginn seines Pastorendienstes neun Jahre lang in einer kleinen Gemeinde in einer Arbeiterstadt diente. Dass er erst mit 40 Jahren nach New York City ging, um Gemeinde zu gründen. Dass er sich anfangs gegen diesen Schritt sträubte und sich unfähig für diesen Dienst fühlte. Heute ist er als Autor bekannt, aber sein erstes Buch schrieb er, als er 57 Jahre alt war. Keller selbst sagte einmal, dass er dankbar ist, dass er erst mit 60 Jahren „berühmt“ wurde! Denn so war er gefestigt genug, um mit dem Ruhm und Rampenlicht gut umgehen zu können und sich nichts darauf einzubilden. In einer Zeit, in der viele den schnellen Erfolg suchen und schon in relativ jungen Jahren denken, sie müssten der Welt ihre Weisheit mitteilen (ich schließe mich da selbst mit ein), ist Kellers Dienst ein Beispiel für jahrelange, treue Arbeit in der Unbekanntheit, für den Wert von unscheinbarer Beziehungsarbeit vor Ort.
Timothy Kellers Leben zeigt, dass es nicht darauf ankommt, wie explosiv der Start ist. Viel wichtiger ist es, dass man bis zum Ende durchhält und das Ziel erreicht. Er selbst ist nun angekommen. Jetzt sieht er Jesus von Angesicht zu Angesicht, dem er Jahrzehnte lang nachgefolgt ist und den er unzähligen Menschen nahegebracht hat.