Über Ablenkungen

Hinter mir liegt eine Woche, in der ich häufig abgelenkt war. Wenn ich körperlich geschafft bin, dann fällt es mir viel schwerer, mich konzentriert an meine Arbeiten zu setzen. Dann schaue ich immer wieder, was es denn Neues in der Welt gibt, ob irgendwelche Nachrichten oder Emails zu beantworten sind oder ob ein neues interessantes YouTube-Video hochgeladen wurde. Es fällt mir in solchen Zeiten auch viel schwerer, Zeit mit Gott zu verbringen. Ich kann mich dann beim Bibellesen viel schlechter konzentrieren. Und wenn ich beten will, springen meine Gedanken nur von einer Sache zur anderen; ich denke über alles mögliche nach, nur nicht über Gott. Und so gebe ich dann schnell den Versuch auf, mit Gott zu reden und mein Körper folgt meinen abgelenkten Gedanken.

Ich merke an mir sehr deutlich, wie die „smarten“ Geräte in meinem Umfeld es mir schwer machen, mich zu konzentrieren. Wie ich immer wieder die Zerstreuung und den seichten, oberflächlichen Zeitvertreib suche, anstatt mich mit etwas Gehaltvollem und Tiefgehenden zu beschäftigen.

Vor einiger Zeit bin ich auf ein Zitat von Peter Kreeft, einem Philosophen und Theologen, gestoßen. Ausgehend von Blaise Pascals Gedanken über die Ablenkung und Zerstreuung der Menschen1Blaise Pascal, Gedanken (Köln: Anaconda, 2011), S. 90ff. beschreibt er das Paradox unserer heutigen Zeit, dass wir von einer Armada an zeitsparenden Geräten umgeben sind, aber uns dennoch beklagen, wir hätten keine Zeit. Der Grund liegt für ihn (Pascals Argument folgend) auf der Hand:

Wir sollten viel mehr Zeit, mehr Freizeit haben als unsere Vorfahren, denn die Technologie, die den offensichtlichsten und radikalsten Unterschied zwischen ihrem und unserem Leben darstellt, ist im Wesentlichen eine Reihe von zeitsparenden Geräten.
In den alten Gesellschaften hatte man, wenn man reich war, Sklaven, die die niederen Arbeiten verrichteten, damit man frei war, um seine Freizeit zu genießen. Das Leben war für die Reichen wie ein Urlaub, denn die armen Sklaven waren ihre Maschinen. …
[Aber] warum genießt jetzt, wo jeder einen Sklavenersatz (Maschinen) hat, nicht jeder den entspannten, urlaubsähnlichen Lebensstil der antiken Reichen? Warum haben wir die Zeit vergeudet, anstatt sie zu nutzen? …
Wir wollen unser Leben komplexer machen. Wir müssen es nicht, wir wollen es. Wir wollen bedrängt, belästigt und beschäftigt sein. Unbewusst wollen wir genau das, worüber wir uns beklagen. Denn wenn wir Freizeit hätten, würden wir uns selbst anschauen und in unser Herz horchen und die große klaffende Lücke in unserem Herzen sehen und erschrecken, weil dieses Loch so groß ist, dass nichts außer Gott es füllen kann.
Also rennen wir herum wie fleißige kleine Käfer, verängstigte Kaninchen, die auf unseren Maschinen, unseren Sklaven, tanzen und sie zu unseren Meistern machen. Wir denken, wir wollen Frieden und Stille und Freiheit und Freizeit, aber tief in uns wissen wir, dass dies für uns unerträglich wäre, wie ein dunkler und leerer Raum ohne Ablenkung, in dem wir gezwungen wären, uns selbst zu begegnen …
Wenn Sie typisch modern sind, ist Ihr Leben wie eine Villa mit einem schrecklichen Loch mitten im Wohnzimmerboden. Also überklebt man das Loch mit einem sehr bunten Tapetenmuster, um sich abzulenken. Sie finden ein Nashorn in der Mitte Ihres Hauses. Das Nashorn steht für Elend und Tod. Wie um alles in der Welt kann man ein Nashorn verstecken? Ganz einfach: man bedeckt es mit einer Million Mäusen. Mehrere Ablenkungen.2Peter Kreeft, Christianity for Modern Pagans: Pascal’s Pensees Edited, Outlined, and Explained (San Francisco, CA: Ignatius, 1993), S. 167-169.

Diese Entwicklung ist zum einen ein gesellschaftliches Phänomen. Die großen Tech-Konzerne haben es geschafft, dass wir ihnen bereitwillig unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit schenken, im Austausch für oberflächliche Unterhaltung. Und die „klassischen“ Medien und die Politik springen auf diesen Zug auf und befüttern ebenso unseren immer stärker werdenden Drang nach Neuigkeiten. Und so nehmen wir den ganzen Tag tausende Informationen auf, ohne irgendwie Zeit zu haben, diese zu verarbeiten. Am Ende verlernen wir es, tiefgründig zu denken.

Natürlich sind Christen genauso von dieser Entwicklung betroffen. Ich merke es ganz stark an mir selbst. Statt Ruhe, Erholung und Sicherheit bei Gott zu suchen, greifen wir lieber zur Fernbedienung oder zum Smartphone. Das Tippen auf das nächste Video ist eben einfacher als das Aufschlagen einer Bibel oder die Konzentration für das Gebet. Petrus ermahnt die Christen: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. Darum seid besonnen und seid nüchtern zum Gebet.“ (1Petr 4,7) In einer Welt, in der die kleinsten Neuigkeiten zu „Breaking News“ aufgebauscht werden, in der Nachrichten so dramatisiert werden wie der letzte Actionfilm aus Hollywood, um das Publikum anzusprechen, in der sich Gesellschaftsgruppen mit unterschiedlichen Meinungen online zerfleischen und immer weiter voneinander entfernen, sind Christen herausgefordert, besonnen zu sein. In einer Welt der ständigen Ablenkung, die uns das Denken abnehmen will, sind Christen herausgefordert, nüchtern (oder: bei klarem Verstand) zu sein. Dafür müssen Christen sich die Zeit nehmen, um sich mit Gott und seinem Wort zu beschäftigen und auf seine Stimme zu hören. Das heißt, sie müssen ihre Aufmerksamkeit auf Gott richten. Über ihn nachdenken und mit ihm reden. Mit Aussagen der Bibel ringen, die man nicht gleich versteht. All das braucht Konzentration.

Christen sind nicht aufgefordert, aus dieser Welt und den modernen Technologien auszusteigen. Stattdessen sollen wir eine Gegenkultur bilden, die sich zuerst auf Gott ausrichtet und dann auf dieser Basis in der Gesellschaft lebt. Die Smartphones, Social Media, Streamingdienste usw. nicht abschafft, aber einen anderen, gesunden Umgang mit ihnen vorlebt. Die keine dauerhafte Informationsberieselung braucht, sondern auch mal mit sich selbst und seinen Gedanken in Ruhe sitzen kann. Und tatsächlich sind die geistigen Tugenden, die ein „einfaches“ christliches Leben fördern – nämlich Zeit der Stille zum Nachdenken, Konzentration, selbstständiges Denken – die Qualitäten, die unsere Gesellschaft dringend braucht und die einen echten Mehrwert bieten.

Fußnoten

  • 1
    Blaise Pascal, Gedanken (Köln: Anaconda, 2011), S. 90ff.
  • 2
    Peter Kreeft, Christianity for Modern Pagans: Pascal’s Pensees Edited, Outlined, and Explained (San Francisco, CA: Ignatius, 1993), S. 167-169.