Besser lesen

Lesen kann unglaublich schön sein. Ich liebe es, in ferne Welten oder mitreißende Geschichten einzutauchen; Neues zu lernen und meinen Horizont zu erweitern. Lesen kann aber auch unglaublich anstrengend sein. Es erfordert Aufmerksamkeit und Konzentration; manches von dem, was ich lese, verstehe ich nicht oder muss es mehrmals lesen, um überhaupt erstmal den Inhalt zu verstehen. Lesen bedeutet manchmal Kampf: Kampf mit mir selbst und meiner Motivation, Kampf mit dem Autor, um seine Gedankengänge zu verstehen, Kampf mit meinen Gedanken, wenn ich mich mit dem Gelesenen auseinandersetzen und mit bereits vorhandenem Wissen in Verbindung bringen will. Wenn ich vor die Wahl gestellt werde, ein Buch zu lesen oder einen Film zu schauen, ist der Film immer die leichtere Wahl und mein Herz tendiert automatisch in die Richtung des leichten Vergnügens. Und gleichzeitig weiß ich, dass mich die Lektüre eines guten Buches langfristig mehr erfüllt als ein guter Film.

Wenn also Lesen zwangsläufig mit einer gewissen Anstrengung verbunden ist, dann ist es nur verständlich, dass wir das Meiste aus unserer Lesezeit herausholen wollen. Wenn ich mir schon die Arbeit mache ein Buch zu lesen, dann soll es am Ende doch auch etwas bringen. Nur leider funktioniert das nicht automatisch. Ich kann mich an viel zu viele Bücher erinnern, die ich irgendwann einmal gelesen habe, von denen ich weiß, dass ich sie während des Lesens auch unglaublich gut und gewinnbringend fand, von denen ich aber nur noch oberflächlich weiß, worum es ging und wo alle guten Gedanken von damals verloren gegangen sind. Richtiges Lesen ist kein Automatismus. Es ist eine Technik, die wir erlernen müssen. So humorvoll das (wohl nicht ganz ernst gemeinte) Zitat von Woody Allen ist, es steckt auch eine gewisse Tragik dahinter: „Ich habe einen Schnelllesekurs besucht und habe Krieg und Frieden in 20 Minuten durchgelesen. Es handelt von Russland.“ Wenn das alles ist, was nach dem Lesen von Tolstojs Klassiker hängen bleibt, stellt sich mir die Frage, ob dann nicht selbst diese 20 Minuten vergeudete Zeit gewesen waren.

Aus meinem eigenen Ringen mit dem Lesen habe ich im Lauf der Jahre einige Ratschläge entwickelt, die helfen sollen, besser – d. h. nachhaltiger – zu lesen. Ich bin der Meinung, dass gerade für Christen das Lesen eine höchst wertvolle Disziplin ist. Der christliche Glaube ist eine „Religion des Buches“. Die Bibel ist das wichtigste Buch der Welt. Sie ist es wert, richtig und immer wieder gelesen zu werden. Und daneben gibt es außerdem eine unermessliche und nie versiegende Flut an wertvollen Büchern. Deshalb hier einige Ratschläge, um das Lesen so gewinnbringend wie möglich zu gestalten.

Lies immer auf Basis der Bibel. Die Bibel ist und bleibt die Basis für das christliche Leben. In ihr spricht Gott zu uns. Ich bin der Überzeugung, dass Gott hauptsächlich durch die Bibel zu uns redet. Deshalb sollte es unser höchstes Ziel sein, in diesem Buch zu lesen und in ihm zu leben. Wie C. H. Spurgeon es ausdrückte: „Lies viele gute Bücher, aber lebe in der Bibel.“ Die Bibel muss hauptsächlich prägend für unsere Gedanken sein. Alle anderen Bücher, so gut sie auch sein mögen, sind nur Beiwerk und müssen sich am Maßstab der Bibel messen. Das heißt auf keinen Fall, dass wir nicht andere Bücher lesen sollten. Sie müssen nur ihren richtigen Platz hinter der Bibel einnehmen.

Vermeide Ablenkungen. Lesen ist an sich ein Akt der Konzentration. Ich lenke meine Gedanken auf die Buchstaben auf der Seite, ich erfasse den Sinn des Textes und verarbeite ihn. Bei all dem ist absolute Aufmerksamkeit gefordert. Ich kann nicht lesen und in Gedanken bei einer ganz anderen Sache sein und erwarten, dass ich am Ende noch weiß, worum es denn gerade ging. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass beim Lesen meine Gedanken abschweifen und ich irgendwann feststelle, dass meine Augen zwar den letzten Abschnitt „gelesen“ haben, mein Gehirn aber nichts vom Inhalt aufgenommen hat. Die größte Ablenkung beim Lesen ist das Smartphone. Eine Studie hat gezeigt, dass die bloße Anwesenheit eines Smartphones im selben Raum die Aufmerksamkeit drastisch senkt. Gerade wenn du ein anspruchsvolles Buch liest, solltest du genau darauf achten, ein Umfeld zu schaffen, dass volle Konzentration fördert.

Wisse, warum du liest. Es ist entscheidend, ein Ziel zu haben, warum man ein bestimmtes Buch liest. Denn sonst könnte man es ja auch bleiben lassen. Außerdem wird dein Ziel bestimmen, wie du liest, wie tiefgründig oder oberflächlich, wie schnell oder wie langsam usw. Lass es mich an einigen Beispielen verdeutlichen: Aktuell lese ich Tolkiens zweiten Band von Der Herr der Ringe. Das ist sozusagen mein „Entspannungsbuch“. Hier will ich einfach abschalten und in die Geschichte eintauchen. Deshalb ist es mir egal, wie viele Seiten ich an einem Tag schaffe. Mal hab ich viel Zeit (z. B. an einem Sonntagnachmittag) und dann lese auch mal 3–4 Stunden am Stück. Dann aber kann das Buch auch mal wieder zwei Wochen unangerührt auf meinem Nachttisch liegen, weil ich nicht die Zeit dazu habe. Parallel habe ich auch The Secular Creed von Rebecca McLaughlin gelesen. Bei diesem Buch muss ich mitdenken, es enthält viele interessante Gedanken für mich und ich will die aufgeführten Argumente verstehen. Deshalb lese ich immer ein ganzes Kapitel an einem Stück, um den Gedankengang nachzuvollziehen und habe einen Zettel und Stift griffbereit, um mir gegebenenfalls kurze Notizen zu machen (mehr dazu gleich). Vor einigen Wochen habe ich auch Warum Eva keine Gleichstellungsbeauftragte brauchte von Annegret Braun gelesen. Hier ging es mir nur darum, einen groben Überblick über den Inhalt und die Argumente der Autorin zu bekommen, um mir eine Meinung zu dem Buch zu bilden. Deshalb habe ich die 240 Seiten in ca. anderthalb Stunden „gelesen“, also überflogen.

Lies aktiv. Wenn du ein Buch liest, trittst du in einen Dialog mit dem Autor. Ein Dialog ist nie einseitig. Also sei beim Lesen aufmerksam. Stelle dir Fragen, die du auch bei einem normalen Gespräch mit einer Person stellen würdest: Wovon redet sie? Was meint sie mit bestimmten Begriffen? Welche Behauptungen trifft sie und wie begründet sie diese? Sind die Begründungen gut? Welche Inhalte kenne ich schon und welche sind mir noch unbekannt? Wie hängt das Gelesene mit bereits Bekanntem zusammen? Es sind aber auch Fragen erlaubt wie: Stimme ich dem Gelesenen zu oder bin ich anderer Meinung? Stört mich etwas an dem Inhalt? Warum stört es mich? Alle diese Fragen helfen dir, das Buch zu verstehen und für dich nutzbar zu machen. Wenn du aktiv liest, werden dir zwangsläufig verschiedene Gedanken und Ideen beim Lesen kommen. Deshalb mein nächster Ratschlag:

Halte fest, was dir beim Lesen einfällt oder wichtig wird. Wenn du ein Buch nicht nur zum Spaß liest, sondern auch etwas daraus lernen und mitnehmen willst, dann habe beim Lesen immer etwas griffbereit, um dir schnell Notizen machen zu können. Versuche nicht, dir den Gedanken zu merken, um ihn später aufzuschreiben. In den meisten Fällen wird das nicht funktionieren; er wird von anderen Gedanken überlagert oder du vergisst ihn einfach schnell wieder. Deshalb halte ihn sofort fest, um später mit ihm weiterarbeiten zu können. Über die Art und Weise, wie man beim Lesen Aufzeichnungen macht, gibt es unzählige verschiedene Ansätze und jeder schwört natürlich auf seine Methode. Mein Ratschlag ist: Es sollte für dich so leicht wie möglich sein, einen Gedanken festzuhalten. Und es sollte so schnell wie möglich gehen, damit der Lesefluss nicht unnötig unterbrochen wird. Manche nutzen ihr Smartphone, um sich Notizen zu machen oder Sprachmemos aufzunehmen (dabei sollte man sich aber nicht von den anderen Apps ablenken lassen), andere nutzen ein Notizbuch. Ich selbst verwende mittlerweile nur noch A6-Zettel, die gleichzeitig als Lesezeichen dienen, auf denen ich ganz kurz meine Gedanken festhalte. Hier sind z. B. meine Notizen zu McLaughlins The Secular Creed:

Halte deine Einsichten für die spätere Nutzung fest. Mit den Notizen, die du dir während dem Lesen machst, willst du sicher später noch etwas anfangen können. Das bedeutet, dass die kurz festgehaltenen Gedanken ausformuliert und so abgelegt werden müssen, dass du sie später wiederfindest und sie auch dann noch verständlich sind, wenn du den Kontext des Buches nicht mehr im Kopf hast. Vergiss dabei niemals, das Buch und die entsprechende Seitenzahl mit anzugeben, die den Gedanken inspiriert haben! Gerade wenn du als Schüler oder Student den Inhalt später in einer Hausarbeit o.ä. verwendet könntest, ist es sinnvoll, sich gleich die Quelleninformationen zu notieren, als diese später mühsam wieder suchen zu müssen. Aber auch für andere Personen ist dieses Vorgehen sinnvoll. Es ist gut, wenn man als Prediger bei Bedarf auf seine Quellen verweisen kann. Und so kann man Gemeindemitgliedern auch gleich noch gute Literatur empfehlen.

Nicht jeder Gedanke muss weiterverarbeitet werden. Ich kenne den inneren Druck, jeden beim Lesen gekommenen Gedanken später ausschlachten zu wollen. Es soll ja nichts von dem Gelesenen verloren gehen. Wenn du diese Strategie verfolgst, wirst du schnell merken, dass du kaum noch Bücher liest, weil du nur noch mit der Nacharbeit beschäftigt bist. Wenn das dein Ziel ist, fein. Ich persönlich aber meine, dass es ok ist, manche zuvor festgehaltene Gedanken nicht weiterzuverfolgen, wenn du später nicht mehr viel mit ihnen anfangen kannst. Vielleicht nimmst du dir ja später noch einmal das Buch vor und kannst den früheren Gedanken wieder aufgreifen.

Nicht jedes Buch braucht die gleiche intensive Behandlung. Wenn dein Ziel Wissenserwerb ist, dann wirst du früher oder später auf Bücher stoßen, die dir einfach nicht weiterhelfen. Es ist dann völlig in Ordnung, ein begonnenes Buch nicht zu Ende zu lesen, wenn du merkst, dass der Inhalt für dich nicht relevant ist! Es gibt mehr als genügend andere Bücher, die vielleicht besser für dich geeignet sind. Denke nicht, dass du mit dem Beginn eines Buches die Verpflichtung eingehst, es auch bis zum Ende lesen zu müssen. Aber die meisten Bücher werden am Ende einige gute Gedanken für dich enthalten. Dann freue dich daran, lege relevante Notizen in deinem System ab und dann geh zum nächsten Buch. Und dann gibt es ab und zu ein Buch, das unglaublich gut ist, bei dem du beim Lesen merkst, dass da noch viel mehr drin steckt als du aktuell aufnehmen kannst. Mit solch einem Buch wirst du natürlich viel mehr Zeit verbringen. Vielleicht liest du es nach dem ersten Durchgang gleich noch einmal oder du kommst in größeren Abständen immer wieder dahin zurück.

Bei allen Ratschlägen solltest du aber nie vergessen: Hab Spaß am Lesen! Sei dankbar für die Möglichkeit, dass es so viele gute Bücher gibt, dass du durch Bücher die Möglichkeit hast, von jedem Ort aus Neues zu lernen, in fremde Länder und Kulturen oder auch Fantasiewelten einzutauchen. Ich wünsche dir, dass Bücher ein immerwährender Grund zur Freude sind.