„Das kann ich nicht verstehen!“

„Das kann ich nicht verstehen!“ „Mir ist absolut unklar, wie man sich so verhalten kann!“ „Mir ist schleierhaft, wie man eine solche Meinung vertreten kann!“ Kennst du solche Sätze? Bestimmt hast du sie selbst schon mal gebraucht und noch viel häufiger von anderen gehört. Aus rein subjektiver Wahrnehmung hat die Häufigkeit solcher Aussagen im Lauf der letzten Jahre massiv zugenommen. Ich finde das ziemlich alarmierend. Warum treffen wir auf so viel Unverständnis in unserer Gesellschaft? Und warum ist das problematisch? Gibt es einen Weg, wie wir besser darauf reagieren können?

Es ist nicht verwunderlich, dass es uns zunehmend schwer fällt andere Meinungen zu verstehen. Denn innerhalb der letzten ca. zehn Jahre hat es eine rasante Polarisierung in unserer Gesellschaft gegeben. Als vor 50 Jahren Nachbarn unterschiedliche Ansichten hatten, dann gab es immerhin noch eine grundlegend gleiche Basis. Die zugrundeliegenden Werte und woraus sich diese ergeben, stimmten noch überein. Heute ist das anders. Heute fehlt diese Basis weitestgehend. Die Leute begegnen sich mit gravierend unterschiedlichen Grundannahmen über die Welt, die Menschen und wie sie sich verhalten sollten. Teil dieses Problems ist der „expressive Individualismus“, die Autorität des eigenen Ichs. Jeder muss sich selbst treu sein und seine innewohnenden Gefühle und Intuitionen ausleben. Da ist es nur natürlich, dass sich die Meinungen immer weiter voneinander wegbewegen.

Aber allein die Tatsache, dass wir in einer polarisierenden Gesellschaft leben, reicht nicht als Erklärung für das oft geäußerte Unverständnis. An dieser Stelle möchte ich es wagen, den Leser dieses Blogs (der mit hoher Wahrscheinlichkeit Christ ist) herauszufordern: Die oben genannten Beispielsätze höre ich auch immer wieder von Christen. Sie äußern damit oft ihre Bestürzung und ihr Unverständnis über den Zustand der „Welt“. Und keine Frage, es entwickelt sich wirklich nicht zum Besseren. Aber wagen wir doch mal zu Überlegen: Kann es sein, dass die Meinungen von Nichtgläubigen uns deshalb so unverständlich vorkommen, weil wir erstens viel zu wenig Kontakt mit ihnen haben und zweitens wir einfach denkfaul geworden sind? Kann es sein, dass diese Sätze nur ein einfaches Mittel sind, um sich nicht weiter mit absonderlichen Ansichten auseinandersetzen zu müssen? Gestattet mir diese Frage: Können wir den Anderen nicht verstehen oder wollen wir es einfach nicht?

Mir ist natürlich bewusst, dass nicht jeder die Möglichkeiten hat sich intensiv mit anderen Weltanschauungen auseinanderzusetzen. Darum geht es mir auch nicht vorrangig. Jedoch ist ein gewisses Maß an Initiative von jedem Christen gefragt, der seine nichtgläubigen Freunde verstehen und gewinnen will. Wenn wir uns nicht die Mühe machen den Anderen verstehen zu wollen, erschweren wir von unserer Seite aus einen konstruktiven Dialog. Dann werden unsere Gespräche meist nur an der Oberfläche, bei unverfänglichen Themen bleiben. Und wenn es doch einmal tiefer geht, dann kann das Ganze schnell in einen Stellungskrieg ausarten. Die Fronten sind abgesteckt und verhärtet und kein Aufeinanderzugehen ist möglich. Aber so tragen wir leider nur unseren Teil zur Polarisierung der Gesellschaft bei. In einem Stellungskrieg hofft der zu gewinnen, der die größeren Geschütze auffährt. Das sehen wir jeden Tag auf Social Media-Kanälen und vermehrt auch auf Nachrichtenseiten. Das brauchen wir nicht auch noch in den Gesprächen mit unseren Nachbarn und Freunden. Oder aber wir ziehen uns zurück, weil wir merken, dass unsere Gespräche fruchtlos bleiben. Damit aber haben wir auch Jesu Missionsbefehl an den Nagel gehängt.

Warum ist es so wichtig, dass wir uns die Mühe machen andere Meinungen wirklich zu verstehen?
Zum einen zeigt es Respekt gegenüber unserem Nächsten. So wie uns unsere Ansichten lieb und teuer sind, ist es auch bei anderen. Das echte Ringen um das Verstehen anderer Meinungen ist das Gebot christlicher Nächstenliebe, ganz im Sinn der „Goldenen Regel“ in Matthäus 7,12. Wir tun das, was wir selbst von anderen an uns erwarten. Wir zeigen damit, dass es uns nicht einfach nur darum geht den Anderen zu überzeugen und umzustimmen. Sondern wir sind an ihm/ihr als Person interessiert.

Ein weiterer Punkt ist, dass das Verständnis uns vor „Strohmann-Argumenten“ bewahrt. Bei einem Strohmann-Argument greift man nicht die eigentliche Sicht an, sondern seine eigene geschaffene Version davon (die in der Regel stark vereinfacht, verallgemeinert und leicht angreifbar ist). Genau das wollen wir nicht. Auch hier gilt: Uns würde das auch nicht gefallen, wenn jemand nicht den wahren christlichen Glauben angreift, sondern nur seine eigene verdrehte Version davon. Außerdem ist es ein grundlegender Fehler in einer Argumentation. Wird das Strohmann-Argument erkannt, ist deine ganze Anstrengung umsonst gewesen. Deshalb ist es wichtig, dass wir versuchen unseren Gegenüber zu verstehen, damit wir auch im weiteren Verlauf des Gesprächs uns durch eine vorbildliche und tadellose Diskussionsführung auszeichnen und somit einen kleinen Beitrag leisten, „unser Licht vor den Menschen leuchten zu lassen“ (Matthäus 5,16). Wir kommen damit der Aufforderung von Petrus nach, Anderen mit „Ehrerbietung“ zu begegnen (1.Petrus 3,16). Wir sollen die andere Sicht so gut darstellen können, dass unser Gesprächspartner sagt: „Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können.“ Natürlich ist das harte Arbeit. Aber genau dieses Ringen nach tiefem Verständnis ist so selten in unserer Gesellschaft geworden, dass es direkt positiv heraussticht, wenn wir es praktizieren.

Und schließlich ein dritter Punkt: Die Anstrengung die andere Sicht zu verstehen, schärft auch die eigene Sichtweise und Antwort. Wenn wir uns die Arbeit machen den Anderen wirklich verstehen zu wollen, werden wir uns automatisch in diesem Prozess die Frage stellen, warum er seine Ansicht vertritt. Was macht sie attraktiv oder glaubwürdig? Welche Antworten bietet sie? Dabei werden wir auch unweigerlich unsere eigene (christliche) Weltanschauung mit der anderen vergleichen. Wie schneidet sie dabei ab? Das ist kein oberflächliches Vergleichen, nach dem Motto: „Natürlich habe ich Recht!“, sondern ein tiefgehendes Hinterfragen „Warum bin ich davon überzeugt, dass der christliche Glaube Recht hat?“ Wenn wir uns diese Gedanken machen, werden wir zu einem tieferen Verständnis der Wahrheit der christlichen Weltanschauung gelangen. Und wir lernen, wie wir davon ausgehend unserem Gesprächspartner begründet antworten können.

Was können wir tun, um den Anderen besser zu verstehen? Das ist eigentlich ziemlich einfach: Stelle Fragen! Stelle Verständnisfragen („Was meinst du damit?“), damit du wirklich sicher gehst, dass du die Person richtig verstanden hast. Dass ihr von der gleichen Sache redet und das gleiche darunter versteht. Du musst nicht irgendwelche Logikbücher gelesen oder spezielle Kurse in Gesprächsführung belegt haben. Klar können die weiterhelfen. Aber sie sind nicht unbedingt nötig. Es reicht einfache Fragen zu stellen und intensiv zuzuhören. Und das kann jeder mit etwas Übung hinbekommen. Wenn du dir diese Sache angewöhnst, wirst du schnell Veränderungen in deinen Gesprächen und in deinem Verständnis der Menschen wahrnehmen. Wenn du also das nächste Mal versucht bist, eine Meinung als unverständlich oder hirnrissig abzutun, halte kurz inne und dann frage: „Was meinst du damit?“


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