Zeit zum Denken

Als ich kürzlich Krieg und Frieden von Leo Tolstoi gelesen habe (ein klasse Buch – wärmstens empfohlen!), bin ich über ein paar Sätze gestolpert. Es sind eigentlich nur Randbemerkungen und sie sind gar nicht unbedingt relevant für die große Story. Aber sie waren für mich sehr interessant. Beschrieben wird, wie sich die räumliche Umgebung von Fürst Andrej (eine der Hauptpersonen) auf seine Denkprozesse auswirkt.
Zuerst wird die Zeit auf seinem Gut auf dem Land geschildert:

Die eine Hälfte seiner Zeit verbrachte der Fürst Andrej in Lyssyja Gory mit seinem Vater und seinem Sohn, der sich noch immer unter der Obhut von Wärterinnen befand. Die andere Hälfte der Zeit verlebte er in der Einsiedelei von Bogutscharowo, wie der Vater das Gut seines Sohnes zu nennen pflegte. Obwohl Fürst Andrej Pierre gegenüber Gleichgültigkeit für alle äußeren Vorgänge dieser Welt zur Schau getragen hatte, verfolgte er sie doch mit großer Teilnahme, erhielt viele Bücher und bemerkte zu seiner eigenen Verwunderung, wenn zu ihm oder zu seinem Vater ein neuer Gast aus Petersburg, also von dorther, wo das Leben am heißesten pulsierte, kam, daß alle diese Weltleute weit weniger von den Geschehnissen in der inneren und äußeren Politik wussten als er, der ununterbrochen auf dem Dorfe hockte.

Fürst Andrej nutzte also die Zeit in der Stille und Einsamkeit, um viele Bücher zu lesen, sich weiterzubilden und sich tiefgehende Gedanken zu machen. Und obwohl er eigentlich „ab vom Schuss“ ist, hat er doch mehr Einsicht und Wissen als die Leute, die „am Puls der Zeit“ sind.

Wenig später reist er dann in geschäftlichen Angelegenheiten nach Petersburg.

Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Petersburg fühlte Fürst Andrei, wie seine jetzige Denkweise, die er sich in der Einsamkeit erarbeitet hatte, durch die kleinlichen Sorgen, die ihn in Petersburg ausfüllten, völlig verdunkelt wurde. Wenn er abends in sein Heim zurückkehrte, standen in seinem Notizbuch vier oder fünf wichtige Visiten oder Zusammenkünfte für den folgenden Tag vermerkt. Der Mechanismus des Lebens, die Einteilung des Tages, um überall zur rechten Zeit zu erscheinen, nahmen den größten Teil seiner Lebenskraft in Anspruch. Er tat nichts, dachte über nichts nach und hatte nicht einmal Zeit zu denken; er redete nur und mit Erfolg über das, was er vorher auf dem Lande überlegt hatte. Zuweilen bemerkte er mißvergnügt, daß er an einem Tage in verschiedenen Gesellschaften dasselbe sagte. Er war jedoch alle Tage derart beschäftigt, daß er gar nicht darüber nachdachte, wie gedankenlos er wurde.

Nun kommt er nicht mehr zum tiefgehenden Nachdenken, denn seine Zeit wird von vielen Terminen in Anspruch genommen. Besonders interessant ist die Einschätzung, dass er durch die konstante Beschäftigung „gedankenlos“ geworden ist. Andrej ist nun zwar „am Puls der Zeit“ und immer „up to date“. Aber darunter leiden seine Gedanken und er fühlt sich weniger erfüllt als zuvor.

Diese Erfahrung kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Technologie hat es uns möglich gemacht, konstant online zu sein. Wir sind also ohne Unterbrechung mit der Welt verbunden und bekommen immer die neuesten Infos gesendet. Unsere Tage werden genauso durch „kleinliche Sorgen“ ausgefüllt. Dabei ist es egal, ob ein Freund schreibt und ein Treffen am Abend vereinbaren will, Donald Trump irgendeinen Post auf Twitter abgesetzt hat, den er lieber hätte lassen sollen oder ob sich im Nahen Osten ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt hat. Alles wird ungefiltert zugestellt. Und reißt uns damit jedes Mal aus unseren aktuellen Gedanken und beschäftigt uns im Unterbewusstsein. Das ist so ähnlich, wie wenn der Postbote für jeden einzelnen Brief an der Haustür klingeln würde. Jedes Mal musst du deine Arbeit unterbrechen, aufstehen und zur Tür gehen, um den Brief in Empfang zu nehmen.

Mittlerweile gibt es dafür sogar einen eigenen Begriff: „Information Overload“, Informationsüberflutung. Das Internet versorgt uns mit einem nie enden wollenden Stream an „Neuigkeiten“. Somit können wir immer etwas zu tun haben. Und sei es nur um Facebook, Instragram und TikTok zu refreshen und zu schauen, ob jemand etwas neues gepostet hat. Am Ende des Tages hat man zwar immer etwas getan, aber es ist nichts Zählbares dabei entstanden. Und das führt dann zur Frustration, weil so ein Leben einfach nicht erfüllend ist.

In den vergangenen Jahren sind die Stimmen immer lauter und zahlreicher geworden, die zu einem wortwörtlichen „Umdenken“ aufrufen. Der Wert von Ruhe und ungeteilter Aufmerksamkeit wird wieder neu beworben. Es ist für viele nicht mehr erstrebenswert immer online und auf allen Plattformen vertreten zu sein. Wer sich wirklich tiefgehende Gedanken machen will, der setzt der Technologie bewusst Grenzen und schafft sich Freiräume, in denen man wieder ablenkungsfrei nachdenken kann.

Wenn schon Nichtchristen den Wert von konzentriertem Denken hervorheben, sollten wir Christen ihnen es nicht mindestens gleich tun? Immerhin sind wir aufgefordert, Gott mit „allem Verstand“ zu lieben. Und gerade für Leute, die Andachten, Themen, Predigten usw. vorbereiten, ist intensives Nachdenken nochmal wichtiger. Tiefgründige Theologie und Predigen setzen tiefgründiges Denken voraus. Lasst uns Martin Luther zum Vorbild nehmen, der „beharrlich auf Paulus einschlug“ und sich den Kopf zermarterte, bis er verstand, was Gott ihm sagen will.

Meine Herausforderung an dich: Dokumentiere mal für die nächsten sieben Tage die Nutzungszeit deiner elektronischen Geräte. Smartphones haben mittlerweile eine solche Funktion eingebaut („Bildschirmzeit“ bei Apple, „Digitales Wohlbefinden“ bei Android). Apple hat das auch auf ihren Computern installiert. Alternativ gibt es für Rechner RescueTime. Und dann schau mal nach dieser Woche nach, wofür du deine Zeit verwendest. Sicherlich kannst du davon einige Minuten anders verwenden. Und dann beginne mit kleinen Schritten: Zum Beispiel 15 Minuten am Tag, um ein Buch zu lesen. Oder einen Abend in der Woche ohne Smartphone, TV und ähnlichem. Viel Spaß und Erfolg beim Ausprobieren!


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